Reisen zwischen den Kontinenten
Nun waren wir wieder auf See. Kaum die Segel gesetzt, mußte bereits mit dem Festmachen begonnen werden. Eine teuflische See von vorne, in die das Schiff hinein stampfte, setzte das Deck unter Wasser. An Neuseeland vorbei ging es vorerst südwärts, hinein in die tolle Westwindgewalt. Auf 50° Südbreite peitschte der Kapitän das Schiff vor dem Wind ostwärts. War das eine Freude für uns Jungkerls. Bis zum Bersten standen die Segel und die Wache stets klar zum Bergen.
Kapitän Peitsmeier wußte, was er seinem Schiff und der Mannschaft bieten konnte und so knüppelte er darauf los und wir waren begeistert. eine solche Teufelsfahrt mitzumachen. Am Buß- und Bettag hatten wir eine Durchschnittsfahrt von gut 16 sm während eines Etmal. Nur wenige Passagierdampfer erreichten in jenen Jahren diese Geschwindigkeit. Wundgescheuerte Handflächen gab es beim abstoppen der rasant abrollenden Logleine. Das Deck glich einer Waschbalje, in der wir, die erforderlichen Arbeiten verrichtend, umherschwabberten. Dann kam der Tag, an dem wir das Ölzeug und die Seestiefel beiseite stellen konnten. Kein Segel war verloren gegangen als wir das Sturmgebiet beim Kurswechsel nach Norden verlassen mußten.
Am 7. Dezember 1906 erreichten wir unseren Bestimmungshafen Talcahuano. Eine Reisedauer von 28 Tagen lag hinter uns. Nur selten dürfte sie unterboten sein. Ein englischer Dampfer, der einen Tag vor uns in Sydney verlassen hatte, kam zwei Tage nach uns in Talcahuano an. Verständlich, daß diese Leistung im Logis mit gleichem Stolz empfunden wurde, wie im Achterschiff.
In Talcahuano zeigte sich, was ein weitblickender Kapitän, mit der richtigen Beurteilung seiner Besatzung, im Schiffsinteresse erreichen kann. 2500 Tonnen Kohlen sollten, wie an der Westküste üblich, von der Mannschaft gelöscht werden. Eine Dampf- bzw. Motorwinsch hatten wir nicht. Dafür aber acht muskelstarke Männerarme an der Handwinsch. Ein rationeller, intakter Pferdestärken Ersatz. Fahrensleute, die in den Häfen der südamerikanischen Westküste Kohlen, oder noch ärger, Koks gelöscht haben, vergessen diese Knochenarbeit nicht. Ebensowenig die unbarmherzig brennende Sonne während der südlichen Sommerzeit. Eine Erleichterung war es für die Raumleute, wenn sie sich durch die feste Kohle- oder Koksmasse zu den Bodenplanken gegraben hatten und hier eine glatte Unterlage zum schaufeln hatten.
Schwer mußten sie sich ranhalten, ihre Körbe zu füllen, um nicht in Rückstand gegen die Kurbelnden Winschleute zu kommen. Vier Mann im Raum und vier Mann an Deck und auf der Stellage unser - Zweiter -, der die am Runner hängenden hochgeschnellten Körbe warnahm und ihren Inhalt über die Reling in die längsseite liegende Lansch kippte. Ein tolles Arbeitstempo hatte sich bei uns eingespielt. Es hatte schon seinen Grund. Der Kapitän hatte nämlich eine Art von Akkordvertrag mit uns abgeschlossen. Sofern wir täglich 100 Tonnen Kohle löschen würden, sollte für uns Feierabend sein. Außerdem würde er am Wochenende ein Faß Bier spendieren. Für die Gestellung der erforderlichen Lanschen würde er sorgen.
Kaum anzunehmen, daß ein derartiges Angebot in einer langen Vorzeit jemals Windjammermatrosen gemacht worden ist. Wir schaufelten und kurbelten darauf los. War noch Freiraum in einer Lansch, dann war es für uns selbstverständlich, diesen über unseren Vertrag hinausgehenden Platz aufzufüllen. Keine Lansch verließ das Schiff ohne vollbeladen zusein. Spätestens 16 Uhr war der Arbeitstag für uns beendigt. Frisch gewaschen und im sauberen Päckchen gingen unsere Blicke vielfach zu den Nachbarschiffen hinüber auf denen bis um 18 Uhr gearbeitet wurde und manche Lansch mit dem Glockenschlag die Leinen los warf und nur teilweise beladen, eiligst abfuhr. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir beneidet wurden. Sowohl von den Mannschaften, wie von manchen Kapitän, dem die prompte Abfertigung der Lanschen nicht entgangen war.
Der ersten Sonnabend kam. Ihm folgten viele mit dem gleichen Verlauf. Am Nachmittag fand das Übliche Deckwaschen statt. Der Kohlendreck, die unvermeidliche Zugabe der emsigen Wochenarbeit ran durch die Speigatten. Nach dem persönlichen Reinigungsprozeß wurde das Arbeitszeug gewaschen, getrocknet und bis zum Montag tief verstaut. Gegen 20 Uhr schlenderten wir gemächlich nachachtern. Voran unsere Dreimannskapelle. Neben Luke II, die mit Persenning abgedeckt war, lag das zugesagte Faß Bier. Eilige Hände schafften es auf die Luke. Krischan, der sachverständige Gastwirtssohn, zapfte es zunftgemäß an und übernahm den Ausschank. Die Musikanten setzten sich in Reichweite des edlen Gerstensaftes auf den Lukenrand und nach dem ersten Vorspiel kamen die Achtergäste an Deck. Wortlos stellte der Kapitän als Zugabe eine Kiste Zigarren auf die Luke. Der Bordball konnte beginnen!
Der Kapitän war Nichttänzer. Mit einer Handbewegung ermutete er uns, seine Frau zum ersten Walzer aufzufordern. Zögernd, doch dann mit der Haltung eines Weltmanns, kam Richard Vorkamp dieser stummen Geste bereitwilligst nach. Dann waren die Hemmungen des Klassenunterschieds zwischen Vor- und Hinterschiff restlos überwunden. Schnell hatten wir die Tanzfreudigkeit unserer Kapitänsfrau erkannt. Unermüdlich wanderte sie im Walzer - oder Polkatakt von Seemann zu Seemann. In Ermangelung von weiteren weiblichen Partnern, wählten man einen solchen aus dem Männerkreis. Bis der letzte Tropfen aus dem Faß versickert war, zur späten Nachtstunde, hielt die Ausdauer der Musikanten, der Tänzerin, des freigestimmten Kapitäns und von uns Logisbewohnern in bester Laune an.
So erlebten wir unseren Kapitän von der außerdienstlichen Seite. Mit diesem fröhlichen Wochenende an Bord verfolgte er zugleich ein Sonderinteresse für sein Schiff und seine Besatzung. Ein Sonnabend, oder vielmehr die darauf folgende Nacht, war für den Seemann an der Westküste voller gefährlicher Klippen. Auf der Reede liegend, ohne Landverbindung, hatte er sechs lange Wochentage gehorsam seinem Schiff zu dienen. Kein Wunder, daß sein Herz und sein Verlangen auf die ungebundene Freiheit am Wochenende ausgerichtet war. Zu Dutzenden lagen die Segler der schiffahrttreibenden Nationen in den Salpeterhäfen Chiles beieinander.
Nach Feierabend am Sonnabend begann der Massenstart der Sailors an die vermeintliche Freiheit. Eine buntscheckige, tatenlustige Gesellschaft war es schon, die an Land stürmte. Mehr oder minder landfein gemachte Engländer, Franzosen, Italiener, Skandinavier, Yankees und Deutsche, Weiße und Farbige waren es, welche die Stunden des Landlebens weidlich ausnutzen wollten. Unter ihnen harte Burschen. Das Ziel war für dieses internationale Mischvolk nahezu das gleiche.Familienanschluß fand der einfache Seemann bei den Einheimischen nur in Seltenheitsfällen.
Seemannsmissionen gab es meines Wissen nicht. Sofern solide Gasthäuser vorhanden waren, handelte es sich um die Stammlokale der Kapitäne, die für Janmaat tabu waren. Dafür aber Tanzstätten übelster Art, „Fandangoknust“, war die Bezeichnung von uns Deutschen für diese Slums in brüchigen Baracken. Von der Decke baumelten ein paar Petroleumlampen, die trübes Licht spendeten. An den Wänden standen lehnenlose Holzbänke, in Luxusfällen altersschwache Stühle. Tische fehlten. Solche hätten in den engen Räumen auch keinen Platz für die Tanzfläche freigelassen. Nebeneinander, in noch friedlicher Stimmung, saß die internationale christliche und anders gläubige Seefahrt im Tempel Terpsichore’s in Erwartung einer persönlichen Glücksstunde.
Gegenüber, ebenso aufgereiht, die dunklen Senoritas mit ihren blitzenden, lockenden Augen.Kastagnetten wirbelten das Völkergemisch auf und nun begann das Groteske des Abends. Taschentuchschwingend, versuchte Janmaat seiner jeweiligen Auserkorenen im feurigen Fandango seine Vertrautheit mit ihr und ihrem Nationaltanz zu beweisen. Unterdessen kreiste bei den Nichttänzern ein Riesenhumpen mit einem Teufelswein, von uns als „Vino caracho“ bezeichnet, und mit einem noch infameren Kehlenzerstörer, den „Pisco“. Von Mund zu Mund wanderte das Gefäß, gnadenlos war man dieser Verbrüderung ausgesetzt. sofern man die Anderen nicht verletzen wollte. Dieser unkontrollierte Alkoholüberfluß und die aufkeimende Eifersucht sorgten dafür, daß der Realismus sich allzu schnell wieder durchsetzte.
Man hatte seine Fäuste ja nicht nur für die Decksarbeiten. Für so manchen glühenden Senoritafreund war der „Kalabus“ das Ende seiner Erwartungen. Manche Seemann hat diese verkehrswerbende Geldquelle in den Häfen der Westküste kennen gelernt. Ein jeder aber hat von den unfreiwilligen Gästen dieser Stätte alle Einzelheiten über die Unterkunft, Verpflegung und Behandlung erfahren. Zu meinem heutigen Bedauern kann ich nur weitergeben, was uns Alten der Seefahrt im Backsgespräch von den heimgekehrten Hotelgästen anschaulich berichtet wurde. Auch wenn die Schlacht aller gegen alle im Fandangoknust ohne polizeiliche Beteiligung geendet hatte, lebte man weiter auf gefährlichem Boden.
Ging man vereinzelt oder nur zu zweien durch die nächtlichen Straßen, war damit zu rechnen, daß plötzlich lassoschwingende Polizeihelden auf hohem Rosse auf Menschenfang aus waren. Diese abartigen Gauchos waren Meister in ihrem Fach. Hinter der Rosinante trabte das eingefangene Opfer und landete unweigerlich im „Kalabus“. Hier gab es weder eine Vernehmung, noch ein Protokoll. Man war eben ein drunken sailor. Vermutlich erbrachte dem Lassowerfer die Einbringung Lob und Ruhm, am Ende sogar eine Prämie. Das Geschäft für das sportliche Bemühen seiner Reitersleute machte jedenfalls der Kalabuschef.
Todsicher erschien am Montagmorgen der Kapitän des betreffenden Schiffes bei ihm, um sein verlorenes Schaf gegen den Standardpreis von 10 Peso Hotelkosten einzulösen. Ein laufendes, florierendes Wochenendgeschäft für den Firmeninhaber. Spartanische Sitten wurden in dieser Staatseinrichtung in Schatten gestellt. Sitz- und Liegemöglichkeiten hätten das Fassungsvermögen des Lokals beeinträchtigt, ein verständlicher Grund, davon Abstand zu nehmen. Immerhin fehlte es nicht an einer sanitären Ausstattung. Ausgediente Petroleumkanister deuteten ohne besondere Anweisung auf ihren Zweck hin. Hier sammelte sich nun das Vielerlei, das sich tatendurstig an Land begeben hatte und in dem Kampf mit den Tücken des Schicksals besiegt war. Ohne Berücksichtigung eines freien Stauraums füllte sich die Stätte mit mehr oder minder alkoholisierten, fluchenden Fahrensleuten. Mißmutig und abgekämpft suchte Freund und Feind eine Liegestatt auf dem feuchten Boden. Wenn auch ungewollt, zwang das gemeinsame Los die bunte Schar zur Friedfertigkeit.
Ihr Leidensweg ging aber weiter. Am frühen Sonntagmorgen wurden sie aufgescheucht und ohne den gewohnten Specht’schen Kaffeetrunk trieb man sie hinaus. Allerdings nicht in die ersehnte Freiheit, sondern zu vulgären, standeswidrigen Fronarbeiten zwang man den ruhebedürftigen Seemann. Kloaken und Pferdeställe ausmisten, Straßen fegen und derlei für Janmaat unwürdige Arbeiten waren seine feiertägliche Beschäftigung. Wasser und Brot die Zugabe. Kein Wunder, daß die so oft geschmähten Fleischtöpfe des Smutjes traumhafte Vorstellungen erzeugten.
Die besondere Sehnsucht galt aber seinem Kapitän. Wie gesagt, auf diesen war Verlaß und am Montagmorgen würde er gegen Zahlung der Beherbergungskosten bei dem Kalabuschef sein Anrecht auf abhanden Gekommenen fordern, das stand fest. Nicht christliches Mitleid war es, was die Masters zu einer so ungewohnten frühen Stunde an Land trieb. Ausgesprochener Egoismus verbarg sich hier, wie so oft im Leben, hinter äußerlicher Humanität. Mancher Grauler hätte man frohen Herzens zur Abgeltung von erlebten Ärger getrost tagelang in seinem tariflich gebundenen Zehnpesohotel schmoren lassen, wenn nicht - seine Arbeitskraft, bzw. der halben Crew an Bord gefehlt hätte. Die Lade- oder Löscharbeiten verzögerte sich, da es auf jeden Mann ankam. Darum holten die Kapitäne ihre willig folgenden, ausgehungerten Schützlinge eiligst auf den gefahrloseren Schiffsboden zurück.
Ein doppelter Schlag Erbsensuppe mit Speck brachte sie wieder auf die Beine und zurück an die gewohnte Arbeit. Erleichtert um 10 Peso, bereichert an gewissen Erfahrungen, fluchend auf die verdammten „Dagos“, wurden Schwüre geleistet, in diesem teuflischen Land jemals wieder ein Fuß auf die Erde zu setzen. Natürlich ging es, soweit man noch Geld hatte, am nächsten Wochenende wieder ashore. Gegen diese erlebten Methoden sei man jetzt ja gefeit und würde sich zu wehren wissen. Die Eintönigkeit an Bord und die einlandende Abwechslung an Land, das so greifbar nahe lag, warf alle Schwüre und Vernunft über Bord.
Besonderes Pech hatte mein Schwager. Er war Matrose auf einem Engländer. Das Schiff lag in Iquique. Ostern war es. Einige seiner Kameraden waren in der Nacht zum Sonntag die Opfer der Menschenjäger geworden. Gutmütig, wie er war, wollte er seinen Mackern die öde Zeit im Kalabus mit einer Flasche Schnaps verkürzen helfen. Er sah auf seinem Osterspaziergang nicht das grünende Tal, den Hoffnungsschimmer, wie weiland Faust. Auch in der Ferne nicht den schwarzen Pudel. Blindlings lief er in die Falle. Hinein ließ man den Spender - hinaus aber nicht. Den Schnaps war er los, bevor er die Besuchererlaubnis erhalten hatte. So verlief das „frohe Osterfest“ der Christenheit, für den christlich handelnwollenden Seemann in erbaulicher Stimmung und Umgebung. Märtyrer gab es ja zu allen Zeiten.
- Diese feudalistischen Verhältnisse an der Westküste waren natürlich durch vieljährige Erfahrungen Kapitän Peitsmeier bestens bekannt. Nicht ausgeschlossen dürfte es sein, auf seine persönlichen als Matrose. Taktisch klug, umsteuerte er diese Klippen für sein Schiff und seine Crew durch geselligen Wochenendfeste auf dem Achterdeck.
Am Sonntagmorgen ließ er ein Boot klarmachen und zusammen mit seiner Frau, dem Töchterlein und den Beurlaubten ging es zur Küste. In einer, der ansonsten geheiligten Gaststätten, dem Privileg der Kapitäne, spendierte er für seine Leute noch eine Runde und mit dem Hinweis, daß am Abend um 6 Uhr das Boot ablege, begaben diese sich auf den eigenen, freien Kurs. Als Kenner der Seemannspsyche wird er damit gerechnet haben, daß es ihm trotz seiner vorbeugenden Maßnahme nicht erspart bleiben würde, am Montagmorgen ein verirrtes Schaf heimzuholen. Beispielsweise fiel es unseren beiden Schweden von der St.B. Wache schwer, zu einer so frühen Abendstunde den geistigen Freuden zu entsagen.
Talcahuano, im fruchtbar gesegneten Mittelteil von Chile gelegen, war für uns Seeleuten ein Eldorado im Gegensatz zu dem trostlosen Norden des langgestreckten Landes mit seinen öden Salpeterhäfen. Ohne eine Zuflucht im Fandangoknust zu suchen, boten sich hier genügend Gelegenheiten um die wenigen Stunden des Landurlaubs abwechslungsreich zu genießen. Traditionsgemäß verbringen viele Einheimische den Nachmittag promenierend auf den Uferstraßen. Hier brachte der frische Seewind eine angenehme Kühle für die hitzegeplagte Menschheit, der wir uns oftmals zugesellten. Zuweilen fand sich eine Bordkapelle bereit, ein Platzkonzert zu geben. Für die Chilenen war dieser unentgeldliche Kunstgenuß von Seiten der „Gringos“ eine Sonderfreude, die einen entsprechenden reichen Beifall fand.
Ein solcher erfolgte aber auch bei der Einschiffung der bunten Gesellschaft am Abend. Eine einfache Angelegenheit - sollte man meinen. Es stimmt schon, wenn man es mit besonnen, klaren Köpfen zu tun hat. Vor der Masse der Heimkehrer konnte es ohne weiteres gesagt werden, doch augenfällig traten stets jene in Erscheinung, die sich von den Genüssen des Landes nicht trennen wollten. Je nach ihrer Nationalität reagierten die Schädel der torkelnden Gestalten. Von neugewonnenen Freunden oder aufgegabelten Beachcombern wurden rührsamer Abschied genommen. Lallend wurde für ewige Zeiten Freundschaft gelobt.
Für die Bootsführer, gewöhnlich die Steuerleute der Schiffe, war es eine Sonderleistung, Ordnung in ihrem Boot zu schaffen, die eigenen Jantjes von fremden zu sortieren und letztere aus dem Boot zu kanzeln. Half alles Zureden bei den Widerspenstigen nicht, dann war die Ruderpinne das einfachste Mittel zur Herstellung von Ordnung und Eintracht. Die Zuschauer an Land spendeten den Akteuren begeisterten Applaus und mit diesem Abschied pullte ein Boot nach dem anderen mit seiner müde gewordenen Menschenfracht an Bord zurück.
Weihnachten 1906
Die Kapitänsfamilie wollte das Fest mit Bekannten an Land verbringen. Vorher hatte der Kapitän sich nach unseren Festmahlswünschen erkundigt. Einstimmiger Magenwunsch war „Hammelfleisch und Kohl“. Aus welchem Grund dieses Gericht seine besondere Verlockung für uns hatte, erinnere ich nicht. Vielleicht war es das Höchst erreichbare Phantasiebild für den Matrosengaumen jener Tage. Gänsebraten oder dergleichen faßte unser Gehirn sicher nicht. Allerdings auch nicht das unserer Reeder. Immerhin ist es wohl allen Seeleuten gleichermaßen ergangen, daß ihre Gedanken sich mit deren Festfreunden in ihren kultivierten Heimen und den eigenen im Mannschaftslogis beschäftigten.
Hier, auf der „Nordsee“ erlebten wir nun, daß die Mannschaft nach kulinarischen Weihnachtswünschen befragt wurde. Für mich ist es auch das einzige Mal während meiner Fahrzeit geblieben. Der Kapitän kaufte einen feisten Hammel, dazu den nötigen Kohl, wünschte uns ein „frohes Fest“ und fuhr mit Weib und Kind zu seinen Gastgebern. Bier und Zigarren hinterließ er als Sondergeschenk. Mit dieser Fürsorge hoffte er, daß seine Leute in guter Stimmung und Zufriedenheit die Feiertage verbringen würde. Die besten Absichten schlagen aber fehl, wenn der Teufel die Hand im Spiel hat.
Dieser Höllenfürst konnte sich wohl nicht mit der Verletzung alter Gebräuche durch einen wohlwollenden Kapitän abfinden. So schnappte er sich die schwächste Seele des Schiffes, den Smutje. Dieser auf einem Schiff so wichtige Mann bevorzugte stärkere Getränke als seine Kaffeebrühe. Hiervon wußte man und der Kapitän wachte darüber, daß ihm der Zugang zum Köhmfaß versperrt bleibt. Nun fehlte ihm sein Schutzpatron. Zudem war Weihnachten. Warum sollte er freudelos bleiben? Jedenfalls fand er den Zapfhahn zu seinem Verlangen und tankte sich bis zur Lademarke voll.
In dieser festlichen Stimmung kochte er dann unser Hammelfleisch mit Kohl. Ahnungslos geht zur Mittagszeit Waldemar, unser Backschafter, zur Kombüse um unser Wunschgericht zu holen. Mit leeren Back kommt er entsetzt zurück mit dem Bericht, daß die Kombüse in einen stinkenden Qualm gehüllt und nicht zu betreten sei. Geschlossen marschierten wir zur Kombüse. Da lag der Koch auf seiner Holzbank, weder prügelempfangsfähig noch ansprechbar, halb erstickt in einem todesähnlichen Schlaf.
Der Kohl verdiente seine Bezeichnung, er war verkohlt und mit ihm der Hammel. Mit einem leicht angesengten Futter fand sich ein wenig verwöhnte Seemannsmagen noch ab, nicht aber mit den Resten einer Brandstätte. Alle lästerlichen Verwünschungen halfen uns nicht, der Übeltäter feierte das Fest eben nach „seiner Art“. Mit dem Hammelkohl wurden die Fische gefüttert, soweit deren Appetit es zuließ. Hungrig und fluchend feierten wir mit Hartbrot und Margarine in erheblich reduzierter Stimmung „unser Weihnachtsfest“.
Am Tage nach dem Fest kehrte die Kapitänsfamilie zurück. Die erste Frage des Kapitäns galt dem Weihnachtshammel. Armer Smutje. „Von wem wollen Sie die Prügel beziehen, von den Jantjes oder von mir?“, waren die einzigen Worte, die der Kapitän dem Koch in dessen Reich sagte. Wohl hoffend, gelinder dabei abzukommen, wählte er die gepflegte Hand des Fragestellers und wunschgemäß bekam er sie zu fühlen. So gründlich und reichhaltig, daß er seine Wahl sicherlich bedauert hat.
Das Schiff wurde leer, der Sandballast wurde übernommen und am 17. Januar 1907 ging es wieder in See. Nicht, womit wir stark gerechnet hatten, nach einem nordchilenischen Hafen um dort Salpeter nach Europa zu laden, sondern nach Newcastle in Australien. Die Salpeterfracht hatte einen derartigen Tiefstand erlitten, daß es trotz der Ballastreise nach Australien für die Reederei lohnender war, von dort erneut eine Kohlenfracht nach Chile abzuschließen.
Unter Ausnutzung des Südostpassates und der südlichen äquatorialen Strömung schlengerte das Schiff durch den Pacific. Gutes Wetter mit strahlenden Sonnenschein waren stetige Begleiter.Erna bekam Seebeine und wackelte schon allein über Deck. Ihr Ziel war stets das Vordeck und unser Logis. Hier fand sie ohne Nachfrage den Hartbrotspind. Den madenhaltigen eisenharten Pferdehufen gab sie den Namen „Kuchen“ und mit sichtbaren Genuß knabberte sie darauf los. Mit dem echten, hausfraulich gebackenen Kuchen ihrer Mutter, konnte diese sie nicht locken. Bei uns futterte sie Erbsensuppe und an der Kapitänstafel verschmähte sie Hühnersuppe. Das junge Fräulein kannte einfach keine Standespflichten.
In geringem Abstand begegneten wir am 13. Februar die norwegische Bark „Mataura“. Ein paar Flaggensignale wurden ausgetauscht und jedes Schiff fuhr auf seiner einsamen Bahn weiter.Am 3. März passierten wir die Datumsgrenze. Unsere „Nordsee“ nahm keinerlei Notiz von dieser Kalenderzauberei, unentwegt strebte sie ihrem Ziel entgegen, das sie am 14. März erreichte. 59 behagliche Reisetage lagen hinter uns. Auf dieser zurückgelegten Reise hatten wir einen neuen - Ersten -. In Talcahuano war der bisherige sang und klanglos aus unserem Gesichtskreis verschwunden.
Ein Verlust für das Schiff war es nicht. Selbstverständlich war es für Kapitän Peitsmeier, daß er seinen bewährten 2. Offizier zum 1. Offizier aufrücken ließ. Für uns Matrosen war er sowieso maßgebend gewesen. Ich erinnere nicht, ob bereits hier in Newcastle oder in einem späteren Hafen ein neuer 2. Offizier angemustert wurde. Wie bereits früher in Melbourne und Sydney berichteten die Zeitungen in großer Aufmachung, daß der schnelläufer „Phos“, das jetzt bekannte Schmugglerschiff, die jetzige „Nordsee“, wieder in einem australischen Hafen eingelaufen sei. Diesen Berichten nach, war das unter norwegischer Flagge fahrende Schiff als Großschmuggler von Seidenwaren ertappt worden. Dieses Sondergeschäft der Norweger hing uns an und damit die Sonderehrung einer aufmerksamen Behandlung von Seiten der Zöllner.
Nun lagen wir abseits der Stadt zwischen grünen Wiesen, vertäut an einem Anlegesteg, vom Lotsen als Jetty bezeichnet. Mit uns wartete eine stattliche Zahl weiterer Segler auf die Beladung. Dem Ankunftsdatum der Schiffe entsprechend erfolgte diese in geordneter Reihenfolge. Sofern die Züge laufend die Kohlen von den Minen herbeischafften, dauerte die Beladung nur wenige Tage. Nahezu fünf Wochen lagen wir in unserer Abgeschlossenheit. Ab und zu fuhren wir mit einer Fähre zur City. Unser erster Weg führte uns unvermeidlich zur - Post Office -.
Wohl jeder von uns Oltimern, der in Newcastle gewesen ist, hat diesen internationelen Treffpunkt der Seeleute kennen gelernt. Drei schöne Wirtstöchter ließen jeden spendablen Seemann glauben, er sei der Auserkorene und Anwärter auf eine spätere besonders liebenswürdige Auszeichnung. Vermutlich kamen hierfür nur höhere Dienstgrade als die eines common sailors infrage. Jedenfalls wurde ein Freund von mir als junger Offizier eines Dampfers von seinem um ihm besorgten Kapitän im letzten Augenblick von einer bevorstehenden Verlobung mit einem der girls gerettet. Unsere Shillings waren aber gleichwertig und strömten, frei von Rangunterschieden, munter in die Geldkasse.
Während dieser Wartezeit an Landliegeplätzen hatte die Besatzung die seltene Gelegenheit zu gegenseitigen Bordbesuchen. So hörte man von Freud und Leid der Fahrensleute. Man kannte die Schiffe und den Ruf ihrer Reeder und Kapitäne. Waren es nicht die eigenen Erfahrungen, dann war es die Wiedergabe von Handlungsweisen von berüchtigten Kapitänen, die in den Logis der Windjammer allgemein kursierten. Erkannt hatte man, daß auf unserer „Nordsee“ ein guter Geist herrschte und die Besucher gern gesehene Gäste waren. Ein Besuch galt aber mir allein. Peter Carstens, mein alter Schulfreund überraschte mich an einem Sonntag mit seinem Erscheinen. Peter fuhr als Matrose auf einem Küstenschoner zwischen dem Südseearchipel und Australien. Zur Zeit lag sein Schiff in Sydney. Er hatte erfahren, daß die „Nordsee“ in Newcastle lag und kurz entschlossen machte er sich auf den Weg zu uns. Eine unerwartete Freude brachte dieses Wiedersehen mit dem Eppendorfer Freund vieler Jahre. Fernab der Heimat verlief das Beisammensein bei den Antipoden allzu schnell. Lange Jahre vergingen, bevor wir uns in Hamburg wieder trafen.
Das größte Erlebnis hatte aber unsere Erna. Als weibliches Wesen war ihr nur ihre Mutter ein Begriff. Die erste Frau, der sie hier begegnete, wurde erstaunt mit „Mama“ angesprochen. Bisher hatte sie es ja nur mit dem Mannsvolk zu tun gehabt.Dann folgte die erstaunliche Neuerscheinung in ihrem jungen Dasein. Neben dem Schiff tauchte eines Tages ein kleiner Junge auf. Da gab es für die Evastochter kein halten mehr. Irgend jemand von uns trug sie an Land. Eine spaßige Anbiederung begann. Beide plapperten in ihrer Muttersprache darauf los und begriffen nicht, daß sie nicht verstanden wurden. Dessen ungeachtet tollten sie nach kurzer Zeit, wie altbekannte Spielfreunde lustig auf der Wiese umher. Täglich kam der Junge wieder. Treulos hatte Klein-Erna uns allesamt vergessen. Nur zum Packesel taugten wir noch, um sie zu ihrem Freund an Land zu tragen.
Dann kam der Tag, der Erna’s Wiesenfreundschaft schroff beendete und uns von der Wartezeit erlöste. Wir verholten unter die Kohlenkippe. Wagon nach Wagon entleerte sich über das wehrlose Schiff und hüllte es betrauernd in einem Schleier von Kohlenstaub.Mit sauberem Deck und gereinigter Haut wurden die Sturmsegel untergeschlagen. Mit entstaubten Lungen und frischer Lust verließen wir am 20. April 1907 Newcastle mit der Order für Caleta Colosa in Chile.
Unserem Vollrigger war es gleich, wohin die Reise ging. Auf seiner früheren Bahn hetzte der Renner davon. Wie auf der vorherigen Reise passierten wir nach zehn Tagen den 180 Längengrad. Am 21. Mai waren wir querab der Inseln Juan Fernandes und am 27. Mai ankerten wir nach 37 Reisetagen auf Reede von Caleta Colosa. Immerhin war es eine durchaus gute Zeit, da Caleta Colosa mehr als 800 sm nördlicher als unser vorheriger Löschhafen Talcahuano liegt. Weder von unserem Schützling noch noch von ihrer Mutter hatten wir während der tiefgekühlten Sturmfahrt auf 50° Südbreite etwas gesehen. Wohl war Erna im Gegensatz zu ihrer Mutter seefest, doch für beide war die Kajüte ein geborgenerer Aufenthalt als das Schwimmbassin an Deck. Jetzt hatte die Umwelt sie wieder.
Mit Caleta Colosa hat der Herrgott bei der Schaffung der Erde sicherlich beweisen wollen, daß er es auch anders kann als der Menschheit ein Paradies zu schenken, das doch nur verplempert wurde. Das ist ihm auch gründlich gelungen. An Trostlosigkeit ist der Ort kaum zu überbieten. Frei von aller Landsehnsucht löschten wir nach dem bewährten Talcahuaner Akkordvertrag täglich 100 Tonnen Kohlen und feierten am Wochenende unser kleines Fest auf dem Achterdeck. Neben der Öde der Landschaft, ist mir der dortige Figaro alleinig in Erinnerung geblieben.Ein teuflischer Backenzahn hatte mich während der Reise erbarmungslos gequält. Über die harmlosen Zahntropfen aus der Schiffsapotheke triumphierte er hämisch. In diesem verpönten Hafen fand er nun seinen Bezwinger. Ein Mal wöchentlich kam ein Arzt aus dem cka. 10 Seemeilen entfernten Antofagasta zur Abhaltung einer Sprechstunde nach Caleta Colosa.
Sein Gehilfe war ein deutscher Barbier. Bei der ersten Gelegenheit schloß ich mich den weiteren Arztbedürftigen an, um endlich wieder zu meinem Schlaf zu kommen. Der Kapitän fuhr mit uns an Land. Der Arzt war noch nicht gekommen. Als sein Helfer hörte, daß mir ein Zahn gezogen werden sollte, griff er in seine Jackentasche, holte aus dieser eine Handvoll Zähne aller Größen und Zerstörungen an’s Tageslicht und hielt sie stolz dem Kapitän vor Augen. Dazu bemerkte er, daß diese seltene internationale Sammlung sein Werk sei, der Arzt von der Zahnzieherei keine Ahnung habe und zudem würde er die Prozedur erheblich billiger ausführen als der Mediziner.
Vielleicht war die Preisunterbietung für den Kapitän ausschlaggebend, mir war alles recht und mit meiner Zustimmung übergab er mich dem vermutlichen Folterknecht. Unter Mißachtung seiner Verpflichtung als Heilgehilfe bugsierte er mich eiligst aus dem Bereich seines ärztlichen Konkurrenten. Wir landeten in einer der üblichen Wellblechbuden im Ortsinneren. Vorerst blieb mir unklar, aus welchem Grunde er die Exekution nicht in seiner verschwiegenen Behausung, sondern vor derselben ausrichtete. Bald wußte ich es. Mir war alles gleich. Die letzten Wochen hatten mich weich gemacht. Schicksalsgenossen, die auf einem langen Seetörn gleichermaßen gepeinigt wurden, werden mich verstehen. Ich bestieg das Schaffot, einen altersschwachen Rohrstuhl.
Müßiggänger finden sich zu allen Zeiten und an allen Orten ein, um Teilhaber an mehr oder minder ergötzlichen Geschehnissen zu sein. Zumal hier, wo die Arbeit nicht gerade als Segen des Himmels angesehen wurde. Mein - Doktor Eisenbart - brauchte sich nicht marktschreierisch zu verausgaben. Genug des Volkes hatte sich angesammelt. Er setzte die Zange an, den richtigen Peiniger erwischt zu haben. Neben dem nunmehr Entfernten, sei ein weiterer erkrankter Zahn sichtbar geworden. So empfahl er mir, vorbeugend auch diesem sein Handwerk zu legen. Was blieb mir schon übrig.
Obgleich die mir auferzwungene Vorstellung den Zuschauern mehr Freude bereitete als mir angenehm war, dachte ich an etwaige neue Schmerzenswochen auf See und sperrte meinen blutenden Mund wieder auf. Der neue Angriff rollte. Auch diesen überstand meine kraftvolle Jugend. Nicht so leicht und einfach, wie ich es hier darstelle. Im allgemeinen geht man ja nicht mit Begeisterung zum Zahnarzt. Immerhin kannte man in jenen Jahren bereits schmerzstillende, nervenbetäubende Mittel, wie auch das Plombieren von schadhaften Zähnen. Ein solches Verlangen von Seiten eines Janmaaten wäre einer Gotteslästerung gleich gekommen. Also raus mit dem Zahn. Diese robuste und einfache Methode der Urzeit erbrachte dem Figaro erneuten Beifall. Siegesbewußt schwenkte er die Trophäe umher und einverleibte sie, wie bereits die vorhergehende, seiner internationalen Jackentaschensammlung. Ohne Beifall für mein Mitspiel an der Vorstellung, verließ ich erleichtert die Arena. Bei allem reklamehaften Getue des Mannes muß ich gestehen, daß er seine Sache gut gemacht hatte und vermutlich Torturen von Seiten des Mediziners vorbeugte. Wie gesagt, außer diese dentalen Meisterleistung ist mir vom Ort und Hafen Caleta Colosa nichts in Erinnerung geblieben. Desto deutlicher aber eine Abwechslung, die glücklicherweise ohne makabere Folgen endete.
Unserem Kapitänsehepaar und drei anderen deutschen Kapitänen war die Eintönigkeit in dieser Wüstenei zu viel geworden. So beschlossen sie auf einige Tage nach Antofagasta zu fahren und zwar mit unserem Rettungsboot. Bemannt wurde das schwerfällige Boot mit zwei Matrosen, die von ihren Kapitän abgeordnet waren, sowie Tedje und meiner Person. Antofagasta dürfte nur als ein vergrößertes Ebenbild von Caleta Colosa angesehen werden. Dahin ging nun unsere große Seefahrt. Der Antriebsmotor zur Überwindung der Strecke von zehn Seemeilen ear unsere achtarmige Muskelkraft. Die stetig laufende Dünung des Pacific und die brennende Sonne sorgten dafür, daß der Schweiß am Körper herunter ran. Schlag auf Schlag durchstöcherten unsere Riemen im Gleichtakt die See, derweil unsere hohen Fahrgäste sich vergnüglich unterhielten.
Frei von ketzerischen Gedanken pullten wir Seemeile bei Seemeile ab und landeten unsere Gebieter im sicheren Hafen von Antofagasta. Dieser - sichere - Hafen hatte schon seine Eigenart, die wir bald erfahren sollten. Zielbewußt strebte unsere Reisegesellschaft dem wohlbekannten Treffpunkt der deutschen Schiffsführer zu. Vorerst wurde mir ein recht ehrenvoller Auftrag erteilt. Frau Peitsmeier wollte sich nicht von ihrer Gesellschaft trennen und so wurde ich mit Pesetas und Erna beglückt, um für diese junge Dame zwei Paar Schuhe zu kaufen. Das eine Paar war auf Vorrat gedacht. Mir war die Abneigung der barfußlaufenden Erna gegen jegliche freiheitshemmende Beschuhung wohlbekannt. Als ich nach langem Suchen ein vertrauenserweckendes Schuhgeschäft aufsuchte, begriff ich ihren hartnäckigen Widerstand, den sie gegen die Anprobe leistete.
Viele Kuriositäten sind seit Noah’s Archenfahrt auf Schiffen vorgefallen. Zu diesen dürfte jedenfalls der Schuheinkauf eines Janmaaten für die Kapitänstochter erstmalig gewesen sein. Mit diesem Sonderjob betraut kaufte ich mehr auf gut Glück zwei Paar m.E. passende Lackschuhe für meine Schutzbefohlene ein. Letztere und ihre Quälgeister lieferte ich anschließend bei ihren Eltern zu deren Zufriedenheit ab. Das Dicke Ende kam später auf See.Entledigt von dieser Aufgabe, kaufte ich mir ein Maisbrot und schlenderte durch die Elendsgassen und kaum besseren Straßen zum Boot zurück. Eine, am Morgen kaum spürbare Brise hatte sich inzwischen erheblich aufgefrischt und entwickelte sich später zu einem an der Westküste bekannten - Norder -.
Unser Boot begann mit einem Tänzeln. Dann wurden es wilde Bocksprünge, die gegen die nebenliegenden Boote prallten und von diesen gleichartig heimgezahlt wurden. Wir Insassen dieses störrischen Vehikels hatten nur eine Sorge, daß es sich in seiner Wildheit nicht die Rippen brach und in dem sogennaten sichern Hafen ein unrühmliches Ende fand. Stunde um Stunde standen wir am Bootsrand und mühten uns ab, die Knüffe der Nachbarn abzuwehren. Es wurde Abend, es wurde Nacht und am folgenden Tag pustete es unentwegt weiter. Hungrig und todmüde verfluchten wir das Elendsnest, die wohlversorgten Kapitäne, unseren Teufelskahn und die gesamte Umwelt.
Am Nachmittag erhielten wir durch einen Boten Bescheid, daß unsere Reisegesellschaft bei der geringen Aussicht auf baldige Wetterverbesserung beschlossen habe, auf dem Landweg nach Caleta Colosa zurück zu fahren. Uns aber wurde der Schutz des Bootes weiterhin übertragen und befohlen, erst bei Gefahrlosigkeit den Hafen zu verlassen. Da saßen wir nun in unserem hopsenden Untersatz. Hungrig, geldlos, zermürbt und wutentbrannt zwischen ebenso fluchenden Lacheros. Von unserer Obrigkeit verlassen, waren wir nun selbstständige Kommandanten geworden. Schnell wurden wir uns einig, diese Boxerei nicht länger mitzumachen. Also hinaus aus dem Hexenkessel! Auf der Reede lag einer der chilenischen Küstendampfer. Auf diesen Schiffen, so sagte man, seien vielfach Deutsche als Offiziere tätig.
Darauf setzten wir unsere Hoffnung. Wegen der Unmöglichkeit bei dem hohen Seegang Lade- oder Löscharbeiten zu verrichten, wartete man dort auf das Abflauen des Sturmes. Dieses Schiff hatten wir uns als Nothafen zum Ziel gesetzt. Nachdem wir uns von unseren lästigen Nachbarn befreit hatten und längsseite der Mole kamen, erregten wir im wachsenden Maße die Aufmerksamkeit, der zum Müßiggang gezwungenen Hafenarbeiter. Mit Rufen und Gebärden deuteten sie auf den Signalball am Molenende hin, der das Auslaufen drohend verbot. Unser Entschluß stand aber fest.
Wir legten uns in die Riemen. Drei Mann pullten, der vierte steuerte mit dem Riemen. Alles Rufen von Land hinderte uns nicht. Wir passierten das Molenende und vor uns lag der unendliche Pacific. Schon kam die Brandung angerollt. Wir am Riemen sahen sie nicht, wohl aber unsere Steurer. Pult! Pullt ! Pullt! schrie er und schon hob uns die erste Welle steil empor, kaum im Tal faßte uns die zweite und wieder erfolgte die gleiche Höhen- und Sturzfahrt. Noch ein mal schleuderte uns die dritte und letzte See, wie ein Spielball hoch und hinab. Nun hieß es die nächste Wellenserie im tiefen Wasser abzufangen. Obgleich auch diese Wellenreiterei es ernst mit uns meinte, benahm sie sich erheblich zahmer als ihre Vorläufer. Mit außergewöhnlichem Glück waren wir aus dem Höllenkessel heraus gekommen. Heute betrachte ich dieses Unternehmen als die leichtsinnigste Tat meines Berufsleben. Neunzehnjährige sind bedenkenloser.
Vom Dampfer aus hatte man unsere Brandungsfahrt beobachtet. Längsseite gekommen, baten wir um Aufnahme. Nach altem Seemannsbrauch wurde sie uns selbstverständlich gewährt. Ein schwieriges Problem wurde das Bergen des Bootes. Die gesamte Dampfermannschaft stand klar bei den Taljen ihres Rettungsbootes um unser Boot aufzuheisen. In Lee des Schiffes schabberten wir bergauf - bergab und warteten auf unsere Chance, die Taljenblöcke zu erwischen, um sie vorne und hinten gleichzeitig einzupicken. Wir kennen ja alle die Schwierigkeit und Gefahr dieses Unternehmen bei nur kabbeligen Seegang.Endlich hatte man unser Boot mit uns viere Janmaaten Hand über Hand aufgeholt und nach dem Sprung an Deck fühlten wir wieder feste Planken unter unseren Füßen. Dazu eine überaus freundliche Aufnahme von Seiten des deutschsprechenen Kapitäns.
Für unsere ausgehungerten Magen war das dargebrachte Abendessen in der Offiziersmesse wegen seiner Vielseitigkeit und dem hehren Ort unwahrscheinlich. So lebte man also außerhalb des Logis in der Messe. Immerhin ein erfreulicher Anschauungsunterricht für die Zukunft. Man gab uns Schlafdecken und stellte uns die Messe als Schlafplatz zur Verfügung. Schwer begreiflich war es für uns, daß sich Windjammermatrosen an der trostlosen Salpeterküste nahezu als Hotelgäste fühlen konnten. Eine Situation, an die man sich erst gewöhnen mußte. Dafür sorgten sehr schnell unsere todmüden Körper. Draußen wehte es weiter. Volle zwei Tage und Nächte mußten wir die Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. Dann beruhigte sich das Wetter. Der Wind flaute ab und nur die langausrollende See erinnerte daran, tagelang ihre Gefangenen gewesen zu sein, wenngleich in den letzten 48 Stunden in einem durchaus annehmbaren Schlupfwinkel.
Dankbar verabschiedeten wir uns von unseren Gastgebern, kletterten in unser Boot, wurden in sein nasses Element hinabgefiert und pullten mit frischen Mut in die Nacht hinein. Es wurde eine harte Nacht. Man hatte schon seine Mühe, in der Dünung seine Riemen zu beherrschen. Als wir in der Morgenfrühe längsseite unserer „Nordsee“ festmachten, klebten unsere hautlosen Handflächen an den Riemen. Wir waren jedenfalls wieder an Bord, die Kapitänsfamilie schon lange und trotz des Kohlendrecks und der Schaufelei wuchs die neue Haut. Bald gehörte die kleine Zwischenreise nach Antofagasta, wie viele Episoden im Seemannsleben, zur Vergangenheit, nicht aber vergessen wurde sie.
Das übliche Rätselraten begann. Wohin sollte die Reise gehen? Erfüllt sich unser Wunsch, mit einer Salpeterladung nach Europa zu segeln?Am 14. Juli wußten wir es. Wir hievten Anker, sangen Shanties, aber nicht für homeward bound, sondern in alter Anhänglichkeit zum dritten Mal nach Australien. Wieder war es Sydney, wo wir Kohle für die Westküste laden sollten. Die „Zufriedenheit“ der Eltern von Erna bei der Rückkehr vom Schuheinkauf in Antofagasta war nicht von langer Dauer. Sie nahm ein jähes Ende. Die Schuhe waren wohl schön, aber zu eng. Kaum auf See, da kletterte Erna in einem unbeobachteten Augenblick in der väterlichen Schlafkammer auf die Sofabank und von diesem erhöhten Standort aus ließ sie nicht nur die eigenen neuen Schuhe, sondern gleichzeitig die erreichbaren ihrer Eltern durch das offenstehende Bullauge außenbords plumpsen. Dieser Selbstschutz soll nicht glimpflich für sie verlaufen sein. Vorteilhaft dagegen für den Schuhwarenhändler in Sydney.
Für uns Vorschiffsgäste war Erna eben die - Dame - an Bord und wir alle fühlten uns als ihr Schutzengel. So war es ein ungesagtes Gebot, in ihrer Gegenwart sämtliche Flüche, die Janmaat graulend in die Wolken stieß, brav in sein Inneres zu versenken. Besonders schwer ist diese Enthaltsamkeit dem alten Schweden geworden, der seiner Zeit in Sydney an Bord gekommen war. Als Gewohnheitsgrauler, wie so viele Skandinavier es trotz bester Stimmung sind, mußte er sich wohl oder Übel in Erna’s Beisein beherrschen. Das Fluchen lernte sie trotzdem und recht erheblich. Nicht in unserer Landessprache, sondern auf englisch und spanisch. Die Schauerleute in Australien und an der Westküste kümmerten sich nicht darum, ob das Kind die Ohren spitze. Auf diese Männer konnten wir weder einen pädagogischen noch handfesten Einfluß ausüben. So eignete Erna sich einen reichen, wenig erbaulichen Wortschatz an, den sie freigiebig in der gleichen Tonart aussprühte, wie sie ihn aufgenommen hatte. Uns Seeleuten brachte sie damit keine Neuigkeiten.
Eine behagliche Reise, bei besten Wetter lag hinter uns, als unsere „Nordsee“ am 24. September nach 72 Seetagen in der Bay von Sydney den alten Ankerplatz aufsuchte. In gleicher Regelmäßigkeit, wie im Vorjahr verlief die Hafenzeit.Mit der inzwischen vertraut gewordenen Kohlenbürde im Raum war es wieder der Schlepper „Port Jackson“, der das Schiff am 14. Oktober 1907 auf den Haken nahm und außerhalb der Felsentore zur Fahrt nach Coquimbo freien Lauf gab.
Zum dritten Mal ging es auf Meilenjagd ‘gen Osten. Mit der Zuverlässigkeit eines Postdampfers passierten wir wieder nach 10 Tagen die Datumsgrenze, standen allzeit klar zum Segelbergen und liefen ohne Zwischenfälle am 12. November in Coquimbo ein. Eine Reise von 29 Tagen lag hinter uns. Die unterschiedliche Dauer von Segelschiffsreisen dürften unsere verschiedenen Reisen zwischen Australien und Chile kennzeichnen. Für die Ostwestfahrt wurde mehr als die doppelte Zeit benötigt als umgekehrt vom Westen nach Osten. Ein Zufall wollte es, daß mir jetzt, nach 60 Jahren, ein Vergleich von nahezu denselben Zeiten und Distanzen zur Verfügung steht. Es handelt sich um ein seemänisches Meisterwerk, nämlich das Buch:
"Sturmverweht"
William H.S. Jones
Master Mariner
Dieses Buch des englischen Kapitäns schildert echt und Schicksalshaft das Leben an Bord von Segelschiffen, wie es uns alten Fahrensleuten hart und stolz in Erinnerung geblieben ist. Für mich hat das Buch ein besonderes Interesse, da ich zur gleichen Zeit mit der Viermastbark „Pitlochry“ der Reederei F. Laeisz im Herbst 1905 die außergewöhnliche Orkanreihe abwetterte, wie sie ber der Kap Hoornumsegelung der „Britsh Isles“ dargestellt worden ist.Es waren die berüchtigten Wochen, in denen das Vollschiff „Susanne“ 99 Tage zur Hoornumrundung benötigte und eine Gesamtreise von 189 Tagen von Port Talbo nach Caleta Buena hatte.
Die „Pitlochry“ hatte Vor- und Großmast, Kreuzbramstenge, Klüverbaum und sämtliche Sturmsegel verloren. Mit viel Glück wurden wir von dem englischen Dampfer „Jumma“ aufgepickt und nach Montevideo geschleppt. Zwischen vielen anderen Havaristen lag dort bereits das Lloydschullschiff „Herzogin Sophie Charlotte“, das gleichfalls an Kap Hoorn entmastet umkehren mußte.Die „British Isles“ schaffte es. Wenngleich unter bitteren menschlichen Verlusten, Der Zufall wollte es, daß ein Jahr später die „Nordsee“ in einem gewissen Zusammenhang mit der „British Isles“ kam. Beide Schiffe machten nahezu gleichartige Reisen zwischen Australien und der Westküste, deren Verlauf nachstehende Übersicht veranschaulicht.
dt. Vollschiff „Nordsee“ engl. Vollschiff „Britsh Isles“ 1652 BRT Kapitän Ernst Peitsmeier 2287 BRT Kapitän James Platt Barker Tage Tage Ab Sydney 9.11.1906 30.10.1906 Ab Newcastle An Talcahuano 7.12.1906 28 34 3.12.1906 An Valparaiso Ab Talcahuano>/td> 14.1.1907 22.12.1906 Ab Valparaiso An Newcastle 14.3.1907 59 96 28.3.1907 An Newcastle Ab Newcastle 20.4.1907 29.4.1907 Ab Newcastle An Caleta Colosa 27.5.1907 37 56 24.6.1907 An Mejillones Ab Caleta Colosa 14.07.1907 An Sydney 24.09.1907 72 Ab Sydney 14.10.1907 An Coquimbo 12.11.1907 29
Bei beiden Schiffen wurde der Datumswechsel bei dem Überschreiten des 180° Lg. nicht berücksichtigt. Kpt. Jones bezeichnet die Reise der „Britsh Isles“ von 34 TagenNewcastle - Valparaiso als besonders schnell. Die „Nordsee“ hatte eine Reisedauer von 28 Tagen Sydney - Talcahuano. Grob gerechnet liegt Newcastle cka. 60 Seemeilen nördlicher als Sydney und ebenso Valparaiso 240 Seemeilen nördliche als Talcahuano. Die „Britsh Isles“ hatte somit ungefähr eine Distanz von 300 Seemeilen mehr zu segeln als unser Schiff. Auf Seite 207 seines Buches gibt Kpt. Jones an, daß sein Schiff am 30 November auf 37° Süd und am 3. Dezember im Hafen von Valparaiso war. Talcahuamo liegt auf 37° Süd. Somit war die „Nordsee“ drei Tage schneller als die „Britsh Isles“. Beide Schiffe gingen zurück nach Newcastle. Wir hatten eine Reisedauer von 59 Tagen und lagen bereits 14 Tage in Newcastle als das vor uns abgegangene Schiff nach 96 Reisetagen einlief. 9 Tage nach uns verließ das englische Schiff Newcastle mit der Bestimmung Mejillones.
Dieser Hafen liegt kaum mehr als 50 Seemeilen nördlicher als Caleta Colosa, unserem Bestimmungshafen. Um 19 Tage war somit die „Nordsee“ schneller als die „Britsh Isles“. In ferner Vergangenheit liegen diese Reisen. Kein Segler durchkämpfte mehr diese südlichen Breiten mit ihren schweren Stürmen und hohem Seegang, die so viel Unheil angerichtet haben und ebensowenig schlängelt es sich angenehm durch die Passate.
So kennt man auch nicht mehr die Sorgen eines Segelschiffskapitäns, daß ein Rivale auf gleicher Route und gleichen Abfahrtsdaten günstiger abgeschnitten haben könnte als er mit seinem Schiff. In solchem Falle galt dem Lotsen, bzw. dem Schlepperkapitän eine der ersten Auskünfte, die Frage nach dem Verbleib des betreffenden Konkurrenten. Recht freundlich erscheint es, wenn man sich so eindringliche nach dem Ergehen eines Kollegen erkundigt, sofern nicht ein recht hintergründiges Wunschbild hierfür den Anlaß gibt.
Wie bei modernen Sportsleuten ging es um die Ehre, den Ruhm und das Ansehen. War man der Sieger, dann wünschte man dem minder Begünstigten eine Heile Ankunft, möglichst mit ein paar weiteren Seetagen. Mit dem ehrenvollen Dippen der Flagge wurde sein Einlaufen begrüßt. Wir „Lüd“ im Vorschiff waren in dieser Hinsicht der gleichen Erhabenheit verfallen, wie die stolzen Achtergäste. Wehe aber, war man der Unterlegene oder gar gegen mehrere Mittsegler! Ohne besondere Feinfühligkeit war die Stimmung das Alten im Umkreis des Achterdecks erkennbar. Am Stammtisch der Kapitäne in den Häfen der Westküste wird wohl manches Rededuell über ihre Reisen gleichermaßen stattgefunden haben, wie bei uns an der Back im Logis.
Die „Nordsee“, schlank gebaut wie eine Yacht, brauchte keinen Gegner zu fürchten. Unsere Hoffnung, es einmal mit der „Preußen“, dem damals schnellsten Segler, aufnehmen zu können, erfüllte sich nicht. Unsere Miniaturausgabe zu diesem Giganten wäre sicher nicht der Lächerlichkeit anheim gefallen.
Coquimbo, ebenso wie Talcahuano im fruchtbaren Mittelchile gelegen, war für Seeleute ein angenehmer Hafenort. Im gleichen Stil, wie Talcahuano, verbrachten wir die Hafenzeit mit harter Tagesarbeit und frohem Wochenende.Das Schiff wurde leer. Dann kam die ersehnte Order der Reederei aus Hamburg. Eine dritte Ballastreise und zwar nach Portland / Oregon. Von dort hieß es, mit Weizen nach Europa. Wenn auch nicht direkt, so winkte immerhin die Heimat.