Australien
Vollbepackt mit einer Ladung Stückgut, verließen wir am 3. Juli 1906 den geruhsamen Tönninger Hafen. Bereits am 5. Juli hatte uns eine frische Brise vor dem Wind an Dover vorbei geschoben. In weiteren vier Tagen kreuzten wir dann durch den Kanal. Am 4. August passierten wir die Linie und am 27. August waren wir querab vom Kap der guten Hoffnung. Bereits während Flautentage, im Kalmengebiet und in den Passaten hatten wir erkannt, ein schnelles Schiff unter den Füßen zu haben. Hier unten nun, fand es die ihm zustehende Rennbahn.Jetzt legte es los. Prall standen die Segel vom stürmischen Westwind gefüllt brauste es unentwegt ostwärts.Am 25. September, nach einer annehmbaren Reise von 82 Tagen machten wir in Geelong, unserem ersten Löschhafen fest. Dieser kleine Ort, in der Nähe von Melbourne, wurde nur selten von Großseglern angelaufen.
Es war ein schöner Sonntagnachmittag, als wir unser Schiff am Kai vertäuten. Hunderte von Einwohnern ließen sich nicht die Abwechslung von dem gewohnten Alltagsbild entgehen, um den Fremdling in ihrem Hafen zu sehen. Kaum war der Steg an Land gelegt, war das Deck von einheimischen Besuchern überflutet. Wie konnte man es einer Schar von jungen, hübschen Mädchen es ablehnen, den Abend mit ihnen tanzend in der - British Sailors Mission - zu verleben? Wir landentfemdete Jantjes konnten es nicht! So wechselt das Seemannsleben in wenigen Stunden. Gestern noch in Seestiefeln und Ölzeug mit harten Flüchen und Verwünschungen auf der Zunge, heute bei fröhlichem Tanz und gesitteter Unterhaltung. Ausgezeichnet verstand man es in den englischen Seemannsmissionen den Fahrensleuten angenehme Stunden an Land zu bereiten. Zumal hier in Australien.
In Geelong war es besonders Hervorstechend. Angesehene Bewohner der Stadt fanden sich allabendlich in der Mission ein. Freigiebig wurde Tee und Gebäck verausgabt und mit Musik, Tanz und Gesellschaftsspielen wurde die Stunden lustig verbracht. Kaum verwunderlich, daß wir diese, für uns neue Welt noch nicht voll verstanden. So glaubten wir, eine blitzschnelle Eroberung gemacht zu haben, als wir uns gegenseitig entschuldigten, wegen einer liebenswürdigen Einladung auf den gemeinsamen Heimweg zu verzichten.
Recht lange Gesichter machten wir dann zu Dreien als wir nach dem Abschluß des heiteren Abend wartend vor der Mission standen und erkennen mußten, daß uns der gleiche Stern aufgegangen war. Aber was half es. Mit diesem Gefolge mußten wir unsere Kavalierspflicht erfüllen und unser vermeintliches Glück nach Hause begleiten. Vor der Haustür erfuhren wir, daß wir nur den Weg zu ihrer Wohnung kennenlernen sollten. Nach ihrem weisen Beschluß sollte dieser Weg uns allabendlich in ihr Elternhaus führen. Zu Baptisten sollten wir umgeformt werden. Auf unser Seelenheil hatte sie es also abgesehen, - das mußte uns noch passieren. Geradezu eine teuflische List war es aber, deren Lockung wir nicht wiederstehen konnten. - Wurst - real german sausage war es, die uns weich machte. Dies sollte am kommenden Abend unser Festessen sein, wie sie sagte.
Obgleich unser Seelenhunger noch in den letzten Zuckungen lag, wurden wir mit dieser kulinarischen Aussicht halbwegs bezwungen. Der Vater unseres Schutzgeistes war in seiner Jugend wegen einer Straftat von England nach Australien deportiert worden. Dieser frühere, nur spärlich besiedelte Kontinent, war die Strafkolonie von Großbritannien. Nun war der einstige Sträfling ein hochbetagter Mann, Inhaber einer Wurstfabrik, wohlhabend und gottgefällig. Seine Tochter trug redlich dazu bei, die Jugendsünden des Familienoberhaupts abzuzahlen.So hatte sie dieses Mal einen reichen Fischzug im Tümpel der Tugendlosen getan. Nun zappelten wir in ihrem Netz. Richard Vorkamp, Karl Koch und ich. Mit einem frohen - good by -, der Ermahnung, stets - good boys - zu sein und dem Versprechen ihrer Einladung zu folgen, wurden wir dann entlassen. Mit allem wären wir einverstanden gewesen, um uns aus dieser blamablen Situation zu bergen. Wie begossene Pudel zogen wir bordwärts.
Da wir zu Dreien auf falschem Kurs gelegen hatten, brauchten wir gegenseitig kein Hehl aus unseren Enttäuschungen machen. Jedenfalls waren wir uns einig, unser Besuchsversprechen rücksichtslos über Bord zu werfen. Wir Ahnungslosen wußten allerdings nicht, welche Macht ein australisches girl mit der Wurst in der Hand und der Bibel im Rücken auszuüben vermag.Nach dieser Fehlspekulation bedauerte ich, eine andere Einladung abgelehnt zu haben, die ebenso aufmunternd an mich ergangen war.
Eine ältere Dame, Mutter von zwei Töchtern und zwei Söhnen hatte mich anscheinend auf Anhieb in ihr Herz geschlossen. Mrs. Edye war die Witwe eines Holzhändlers, der ihr ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatte. Der älteste Sohn studierte z.Z. in England. Dann kam Cassy, die 18 jährige Tochter. Nach Mutter Edye’s weiser Fürsorge mein vorgesehenes Schicksal. Eine 15 jährige Tochter und ein 14 jähriger Sohn rundete die Familie ab. In diesem Kreis sollte nun ein Loch geöffnet werden, in das ich schlüpfen sollte. Als Partnerin in einem Gesellschaftsspiel hatte sich Mrs. Edye zu mir gesetzt. Auch sie erteilte mir den guten Rat, ein - good boy - zu sein mit der Aufforderung, sie und ihreTöchter nach Hause zu begleiten.
In Anbetracht meiner bereits anderweitigen Verpflichtung lehnte ich diesen ehrenhaften Begleitdienst ab. Mein Versprechen aber abgeben, dafür am kommenden Abend zum - supper - zu erscheinen und einen musikalischen Kameraden als weiteren Gast mitzubringen. Nun waren also zwei Versprechen am Montagabend einzulösen. Die Geschichte konnte ja noch gut werden. - To promise - war der Ausdruck der Verpflichtung zur Innehaltung meiner Zusage. Ein rasanter Start waren jedenfalls für mich die ersten Stunden meines Aufenthalts im fünften Erdteil. Meinetwegen, auch zu dieser Familie würde ich nicht hingehen. - und ich tat es doch. Recht oft sogar. Trieb mich nicht meine eigene Willenskraft, dann war es mein Freund Tedje, dessen Sehnsucht uns in das gastfreundliche Edye-Heim führte. Den sangesfrohen Tedje hatte ich als Teilhaber an den abendlichen Kunst und Futterfesten ausersehen. Dafür hatte er sofort Verständnis und rebellierte nicht, wie dereinst gegen die Kinderwagenfahrt in Tönning. Trotz meiner eingebildeten Konsequenz, entwickelte sich, wie auch bei meiner Wurstmiss, alles ganz einfach.
Am nächsten Tag saßen wir in Reih und Glied am Kairand und klopften den angesammelten Rost von der Außenhaut unserer braven - Nordsee -. Lustig und dreckig hämmerten und schrapten wir und freuten uns auf den Feierabend. Mit Geld versorgt, sollten die Freunden Australiens erschlossen werden.
Ja, so wäre es gekommen, wenn nicht die Familie Edye zu vieren aufgekreuzt wären. Alles guckte natürlich zu der Gesellschaft hin, nur ich nicht. Meine Kameraden riefen mich an. Ich reagierte nicht. Mein schmutziges Arbeitszeug war mir vermutlich zur Begrüßung von Damen nicht geeignet. Zudem rechnete ich wohl auch mit der etwaigen Anöderei meiner Backsgefährten. Auf der anderen Straßenseite hatte die Familie halt gemacht. Offensichtlich erwartete man meine Begrüßung. Als diese, in der Kulturwelt übliche Gepflogenheit von meiner Matrosenseele ignoriert wurde, schickte man einen Botschafter herüber. Es war der Jüngste der Familie, mit dem ich noch keine Bekanntschaft gemacht hatte. So suchte er fragend nach einem - Ernst -. Da die Damen mich in meinem jetzigen Aufzug und Rostbrillenschutz aus der Ferne nicht erkennen konnten, fehlten ihrem Boten auch hinweisende Direktiven. Nun irrte er suchend zwischen uns herum. Ernst Voß, mein Kamerad und Freund in vielen späteren Jahren, lehnet es entschieden ab, der gesuchte - Ernst - zu sein.
Erfolglos kehrte der Junge zu seinen Angehörigen zurück. Meine Vogel Strauß Politik half mir aber nicht. Jetzt kamen die Damen selbst zu uns herüber. Ihre vereinten Augen angelten mich schnell aus der Männerschar. Wohl oder Übel mußte ich gute Miene zu diesem listigen Spiel der Frauen machen und ihren Wunsch erfüllen, das Schiff zu besichtigen. Die Kapitänsfamilie war abwesend und lachend gab mich der II. Offizier hierfür frei. Mein Bemühen, nach dem Rundgang über die Kajüte, Kombüse und Deck unser Logis zu übergehen, mißlang schmählich. Mir war rechtzeitig der, für Frauenbegriffe kritische Zustand unseres Junggesellenheims bewußt geworden. Doch gerade darauf hatte man es abgesehen. Nun erkannte ich auch den Zweck eines Blumenstraußen in Cassy’s zarten Händen. Feierlich wurden die Familienbilder in der Koje umkränzt, nachdem das Bettzeug sorgfältig geordnet war. Eine solche, nahezu sakrale Behandlung hatte die gute alte Koje seit der ersten Beherbung eines müden Janmaaten sicher nicht erfahren. Dann verabschiedeten sich die Besucher. Nochmals mußte ich - promisen -, am Abend zu kommen.
Der Viererbund wandelte zurück in eine komfortable Wohnstätte und ich zu meinem Rosthammer und Schraper. Ein Entrinnen gab es nicht mehr. Bereits eine Stunde vor Feierabend stand der Junge vor dem Schiff. Jetzt kannte er mich ja und so lotste er Freund Tedje und mich in den sicheren mütterlichen Hafen. Es war eine gute Ankerstelle, die wir dort vorfanden. Cassy behämmerte das Klavier. Tedje sang deutsche Wehmuts- und Trutzlieder, die niemand verstand und dennoch dem Solisten wohlgefälligen Beifall einbrachte. Kleinlaut mußte ich hier zur Seite stehen. ein musikalische Mitwirkung hätte die Harmonie des Abend keineswegs gehoben. So entwickelte sich im Laufe der Tage ein amüsantes Verhältnis. Trotz meiner gesanglichen Minderwertigkeit hatte Mutter Edye mich für ihre Älteste auserkoren und machte kein Hehl daraus.
Mit meinen blutjungen achtzehn Lebensjahren hielt ich eine derartige überraschende Bindung immerhin als etwas verfrüht. Außerdem war milde ausgedrückt, die überschlanke Cassy nicht mein Ideal für lange gemeinsame Lebensreise. Abgesehen von dem erfreulichen Umgang mit diesen liebenswürdigen Menschen muß ich zu meiner Schande gestehen, daß das lukullische Abendessen mich erheblich magnetisierte. Tedje aber, wenngleich diesen Genüssen ebenso verfallen, wie ich, hatte neben dieser banalen Schwäche, sich bis über die Ohren in Cassy verliebt. Und diese wieder in Tedje. Amor’s Pfeil traf vermutlich auf gleichmäßige künstlerische Herzen.
So rollten die Tage dahin. Unsere Teilladung für Geelong war gelöscht, nun hieß es von diesen neugewonnenen Freundeskreis Abschied zu nehmen. Unser letztes Festessen lag hinter uns. Verklungen war Tedjes Abgesang vom „Hirsch, den er im wilden Tale schlug“. Mutter Edye beschwor mich, zu desertieren, Cassy zu heiraten und Australier zu werden. Einen Job habe sie schon für mich. Tiefbedrückt wanderten Cassy mit Tedje einige Schritte vor Mrs. Edye und mir zum Schiff. Tedje packte das heulende Elend. Er, der gern bleiben wollte, war der Mutter nicht genehm und Cassy weinte um ihren entschwindenden Auserkorenen. Mutter Edye flehte mich an, Kehrt zu machen und trotz des dreifachen Kummers, meiner Weggenossen, konnte ich in meiner Verdorbenheit eine innere Heiterkeit über diesen seltsamen Viererzug durch Geelong’s stillen Straßen nur schwer verbergen.
Am Gangway unseres Schiffes schieden wir voneinander. Heute wundere ich mich über meine damalige Standfestigkeit gegenüber diesen Verlockungen in Verbindung mit dem mütterlichen Bemühen ihre Tochter so eilfertig einem Fremdling anzuvertrauen. Ein paar Briefe folgten mir später. Tedje wurde reichlicher bedacht. Dazu mit many kisses, wie er mir verriet. Diesen brieflichen Vertraulichkeiten waren m.E. keine realistischen voraus gegangen. Dann blieben auch diese papierenen Gunstbeweise aus.
Zweigleisig verliefen meine Tage in dem kleinen Hafenstädtchen. Hatte man es im Hause Edye auf eine lebenslängliche Bindung angesehen, so hatte es meine vermeintliche Ersteroberung mit der gleichen Ausdauer versucht, mein Seelenheil zu retten. Unsere Gemeinschaftsgirl vom Ankunftsabend hatte auch ihren Willen. Sie mobilisierte den freundlichen Seemannspastor. Unterstützt von dessen Bitte erneuerte sie ihre Einladung. So kam es, daß wir drei mannhaften Jantjes uns selber untreu wurden. Eines abends schipperten wir los. Kleinlaut warteten wir der Dinge, die nach der weisen Überlegung unserer Schutzpatronin geplant waren. Da ein besänftigter Magen weniger aufsässig ist als ein leerer, wurden wir vorbeugend mit Wurst gefügig gemacht. „German sausage“, so betonte nun auch ihr ehrwürdiger Vater, sollte von uns Deutschen geschmacksmäßig begutachtet werden.
Überzeugungsvoll bestätigten wir die Echtheit der Übereinstimmung mit unseren heimatlichen schweineren Produkten. Welch Wunder, an solch kulinarischen Genüsse waren unsere Gaumen seit Monaten nicht mehr gewöhnt. Butter, Wurst, Käse u.s.w. waren bekanntlich zu den Zeiten absurde Wunschträume für die Leute vor dem Mast. Sofern man nicht in einer Glücksstunde die Gelegenheit hatte, von diesem Dinge etwas zu - besorgen -, wurde erst der Steuermannsmagen für standfest genug befunden, diese zu verdauen. Doch hier hatte sich auch der Jantjemagen schnell bereit gefunden, delikateres Futter als Hartbrot und Margarine Marke „Feuerschiff III“ der Firma Kienast, bzw. Specht’schen Mannschaftskaffee aufzunehmen. Nach dieser, für uns vordringliche Aufgabe folgte nun die zweckgebundene unserer Gastgeberin. Unsere Seelenrettung wurde in Angriff genommen. Ein englisches Gesangbuch wurde uns in die Hand gedrückt und geduldig mußten wir, von der Hausorgel begleitet, gottgefällige Choräle singen. Zum -abschied erfolgten christliche Ermahnungen, als - good boys - nicht dem Laster zu verfallen. Beladen mit einem Riesenwurstpaket und einem Bündel Traktaten wurden wir dem sündigen Bordleben zurück gegeben. Zusätzlich mußten wir aber das Versprechen abgeben, allabendlich in gleicher Art zur Andachtsstunde zu erscheinen. - To promise - war inzwischen ein geläufiger Begriff zur Bereicherung unseres englischen Wortschatzes geworden.
Ob wir drei unserer Retterin als besonders Verdorbene, bzw. für das Laster Anfällige vorgekommen sind, deren Rettung von der schlüpfrigen Bahn in ein sittenreines Dasein ihre Christenpflicht sei, ist mir unbekannt geblieben. Außerhalb dieser Sphäre war unser Kleeblatt sich sofort darüber einig, unbedenklich unser Versprechen zu brechen. Eine solche Bekehrungsart wollten wir nicht ein weiteres Mal über uns ergehen lassen. Mit Halloh wurden wir an Bord von unseren Logisgefährten begrüßt. Auch hier, diese Schmach, galt ihre Freude nicht uns, sondern allein der mitgebrachten - Wurst -.
Diese geschätzte, unerwartete Bescherung zu dem frugalen Mannschaftsessen vernichtete jegliches Mitgefühl für die sich aufgeopferten Überbringer der Delikatessen. Wie manches im Leben, so hatte auch die Wurst ein baldiges Ende. Auf diesen billigen Genuß erhob man eine Art Rentenanspruch. Das Egoistenvolk faßte den einstimmigen Beschluß, meine Person erneut für die Beschaffung von Nachlieferungen einzusetzen. Dagegen half kein Sträuben. Mein Einwand, dann aber wieder in alter Stärke aufzukreuzen, drang nicht durch. Man war der Meinung, daß ich es allein schon schaffen würde.
So ging ich dann als Einzelgänger auf die Pilgerfahrt. Hart hatte ich es zu büßen. Die Enttäuschung über das Ausbleiben meiner Chummys entlud sich gesammelt auf mein demütiges Haupt. Singen konnte ich auch nicht und so verlief der Abend ohne Orgelklang für beide Seiten recht dürftig. Realistisch war meine Wurstbeute auf 1/3 reduziert worden und stand somit im richtigen Bekehrungsverhältnis. Den Ausgleich schaffte die dreifache Mitgabe von erbaulichen Traktaten. Wenig christlich gehandelt, so sinnierte ich auf dem Weg bordwärts. Meine enttäuschten Backsgästen über die karge Jagdbeute gab ich deutlich ihre mangelnde Menschenkenntnis zu verstehen. Anstatt mich als Sologänger abzuordnen, hätte die ganze Crew mich begleiten müssen. Sicher wäre dann unsere Scheuer segensreich gefüllt worden. Obgleich die Wurst für mich allein bestimmt sei, würde ich diese in brüderlicher Barmherzigkeit mit ihnen teilen. Dazu war ja erst vor wenigen Stunden ermahnt worden.
Ja, und was wäre wohl ohne mein Großmut erfolgt? Auch ohne sie hätte die Gesellschaft meinen schwererrungenen Besitz bedenkenlos vertilgt. Bestens angewandter Sozialismus. In jenen Zeiten ein nebelhafter Begriff in den Kreisen der christlichen Seefahrt. Für den kommenden Sonntagmorgen hatte die um mich Besorgte mir die Zusage eines weiteren Besuches abgerungen. Zu einem harmlosen Frühstück und anschließendem Spaziergang war ich eingeladen und landete in einer Baptistenkirche. Anscheinend wurde ich dem Kreise der Gemeinde vorgestellt und vermutlich vom Prediger als nächsten Täufling auserkoren. Meine Schutzpatronin verließ mich nun, um ihr Amt als Organistin wahrzunehmen. Einer Flucht vorbeugend flankierte sie mich mit zweiälteren Glaubensgenossinnen.
Nach dieser unfreiwilligen Feierstunde gab es für mich kein Halten. Eilig verabschiedete ich mich von den Kirchgängern und von meiner -Wurstmiss -. Dieses mal für immer. Selbst der feurigste Appell, der nun mir wurstlos gewordenen Kameraden brachte es nicht fertig, mich der Gefahr auszusetzen, von dem zielbewußten Mädchen zum bußfertigen Baptisten umgetauft zu werden. Briefe, mit der immergleichen Ermahnung ein guter boy zu sein und beiliegenden Traktaten, liefen mir eine längere Zeit getreu nach. Dann blieben auch diese aus. Die Beurteilung, ob ich nun stets ein - Good boy - gewesen bin, bleibt meiner Umwelt überlassen.
Zu unserem allgemeinen Bedauern brachte uns die „Nordsee“ bereits 14 Tage später in den nahegelegenen Hafen von Melbourne. Von hier aus machten Krischan und ich noch ein Mal einen Sonntagsausflug nach dem verloren gegangenen Eldorado. Meine freundlichen Gastgeber besuchten wir begreiflicherweise nicht. Entronnenen Gefahren soll man nicht nachlaufen. Krischan buchte an diesem Tag noch eine arge Enttäuschung. Wenn wir Seeleute in den englisch sprechenden Bewohnerkreis eines Hafens planlos in den Straßen herumschlenderten, boten uns die offenen Versammlungen der Heilsarmee eine interessante Abwechslung. So auch hier in unserem Ausflugsort Geelong.
Auch hier führte der Kommandeur mit lautstarker Wortgewalt den zuhörenden Sündern die zu erwartenden Höllenqualen vor Augen, sofern sie nicht seinen Ermahnungen folgten und sofort seiner begnadeten Führung überließen. Als ersten Beweis der Läuterung hielt er eine Spende von irdischen Gütern für notwendig und zweckdienlich. Diese erfolgte dann auch. Von allen Seiten warfen die Verfemten Penny Stücke auf die Riesentrommel. Der Trommler und zugleich der Kassierer des sündigen Mammons war ein Deutscher. Mit diesem Landsmann hatte Krischan ein plötzliches Mitleid. Mit den Worten: „Hier min Jung, hest Du een sixpens förn lütten drink“, warf er einen halben Shilling auf den Opferstock.
Vulkanisch brach aber sein Zorn aus, als er sah, daß sein Geld der gut gemeinten geistigen Bestimmung entzogen wurde und zu dem geistlichen Sammelgut wanderte. Nur schwer konnte ich den mißverstandenen Wohltäter besänftigen.
Einige Tage später, in Melbourne, gelang es mir aber nicht. Wieder standen wir in der Masse einer Heilsarmeeversammlung. Plötzlich bemerkte Krischan, daß ihm im Gedränge die Taschenuhr gestohlen war. Sein Verdacht richtete sich gegen einen Mann, der neben ihm gestanden hatte und sich schnell entfernte. Krischan hinterher, verprügelte den Kerl und kehrte beruhigt zurück. Weder vor noch nach dieser Selbstjustiz hatte er sich herabgelassen, den Grund des Strafvollzuges dem Delinquenten zu offenbaren. Er muß schon den richtigen Spitzbuben erwischt haben, andernfalls wäre er nicht wortlos enteilt. Auf den Verlust der Uhr wäre es ihm nicht angekommen, sagte er nach meiner Anfrage über deren Verbleib. Allein nur auf eine Abreibung des Gauners habe er es abgesehen gehabt. So war Krischan, unser stärkster Mann an Bord. Achtzehn Jahre alt und trotz der vorgenannten Begebenheiten ein gutmütiger, zuverlässiger Makker.
Melbourne im Jahre 1906. Diese Großstadt Australiens stand in einem entschiedenen Gegensatz zu dem bescheidenen stillen Geelong. Auch hier gingen wir fast allabendlich an Land. Gemeinsam mit den promenierenden Einwohnern bummelten wir straßauf-straßab. Besonders hatte es der saturday afternoon in sich. Bereits in jenen Jahren war er eine unantastbare Freizeiteroberung der Arbeitnehmer. In diesen Nachmittagsstunden waren die Straßen übervölkert. Zuweilen besuchten wir die „Mission“. Allerdings kam hier nicht die persönliche Herzlichkeit zum Durchbruch, wie in Geelong. Verständlich, da Melbourne eine große Stadt und unsere „Nordsee“ nicht das alleinige, privilegierte Schiff im Hafen war. Diese Rolle spielten hier zumeist die uniformtragenden und dementsprechenden bewußten Auftreten die Apprentices der englischen Schiffe. Gegen diese illustren Einsatz hatten wir recht ungleiche Chancen. Trotzdem verlebten wir auch hier gesellige Stunden.
Am 19. Oktober war der Rest der Stückgutladung gelöscht. Am gleichen Tage versegelten wir nach Sydney. Dort sollten wir eine Ladung Kohlen für Talcahuano in Chile übernehmen. Sydney dürfte zu den schönsten landschaftlichen Hafenstädten der Erde zählen. Wohl jeder Fahrensmann, der mit seinem Schiff durch das enge Nelsentor in die weite Bucht einlief, wird von dem einzigartigen Panorama beeindruckt gewesen sein, das sich plötzlich sein Auge bot. Eingebettet in schattige Gärten und kleinen Waldungen lagen die Landhäuser all jener Bevorzugten, denen es vergönnt war, außerhalb der City zu wohnen. Noch gab es die Riesenbrücke nicht, die in späteren Jahren die Bucht überquerte. Schneeweiße Fährboote vermittelten den Verkehr zwischen dem Stadtkern und den Vororten. Vereint mit diesen kreuzten schlanke Yachten und Ruderboote auf dem klaren Wasser bei strahlendem Sonnenschein umher und schenkten uns ein Bild von besonderer Schönheit und stetigen Wechsel. Nach wenigen Tagen dieser Geruhsamkeit verholte uns der gleiche Schlepper „Port Jackson“, der uns eingebracht hatte, an die Kohlenkippe.Von der Pier aus war der Landgang bequem und vom Kapitän großzügig mit Geld versorgt, waren wir in der Freizeit ständig unterwegs. Jede Chance wurde ausgenutzt, um die Schiffsplanken mit dem australischen Erdboden zu tauschen.
Geld: Wir Alten der Seefahrt erinnern uns gut daran, war in jenen Zeiten für die Mannschaft eine besonders heikle Angelegenheit. Nicht etwa das Ausgeben des Mammons! Wohl hatte man ein Guthaben im Schiff, doch nur tropfenweise konnte man es anzapfen. So wollte es die weise Fügung der fürsorgenden „Seemannsordnung“. Bei der Anmusterung wurde ein Handgeld in Höhe einer Monatsheuer, allgemein als Advance bezeichnet, jedem Mannschaftsgrad ausgehändigt. Weitere Geldansprüche waren damit für das erste Vierteljahr abgefunden. was dann folgte, war zumeist von dem mehr oder minder vorhandenen Großmut des Kapitäns abhängig. So sammelte sich auf langen Reisen ein erhebliches Guthaben an, das sowohl dem Reeder als Pfand gegen das Auspicken eines Bordmüden diente, wie anderseits ihm bei der Mehrzahl seiner Schiffe ein nettes zinsfreies Kapital anhäufte. Eine unbestrittene Meinung in den Logisgesprächen eines Windjammers. Von Kapitänen wurde an der Back erzählt, die durch eine miserable Behandlung ihre Leute zum Fortlaufen zwingen wollten, um deren angesammeltes Guthaben für sich einzukassieren. Diese - guten alten Zeiten - bargen Probleme, mit denen der heutige Seemann sich nicht mehr zu beschäftigen hat.
Wir von der „Nordsee“, hatten ein Schiff erwischt, dessen Führer der Zeit weit voraus war. Er hatte die eigene Fahrzeit vor dem Mast nicht vergessen und seine Lehren daraus gezogen. So konnten wir mit einer ausreichenden finanziellen Unterlage und dem entsprechenden Selbstbewußtsein unsere differenzierten Unternehmungen vergnüglich starten. Sydney bot reichlich Gelegenheit dafür.
Am 9. November spannte sich „Port Jackson“ vor die willig folgende „Nordsee“ und außerhalb der Gates überließ er sie der eigenen Kraft und der weiten See.Am Vortage hatten wir noch eine Überraschung. Die Koje von drei Junggästen war leer. Die Vögel waren ausgeflogen. Das verlockende Angebot eines englischen Kapitäns, sie als Matrosen anzumustern, hatte die Neulinge im Bordleben vermutlich von der Backschaftplage befreit. Zwei von den Jungen konnten nicht wissen, daß diese Befreiung wenige Monate später das Ende ihres Lebens brachte. Beim Baden in einem chilenischen Hafen sind sie ertrunken. Auf unserer Wache bekamen wir als Ersatz einen alten, ziemlich abgerissenen Schweden als Matrose und einen asthmatischen, schwächlichen englischen Leichtmatrosen.