Die Anreise
Matrosenperspektive auf einem Familienschiff
Auf der Chancensuche landete ich im Jahre 1906 bei den Heuerbaasen Möller & Ohlsen an der Kioutschau-Bucht im Stubbenhuk in Hamburg. Ihre Heuerstelle lag hinter einem finsteren Torweg und war nur ein winziger, kahler Raum, den kein Sonnenstrahl erreichte. Durch Bombenzerstörung oder Abbruch sind diese Althamburger Gänge der Neuzeit gewichen und mit ihnen das vertraute, uns Seeleute anheimelnde Bild der Vorsetzen, die altbekannte - Küste -. Verschwunden ist Umlauff’s Raritätenladen mit Vielerlei an Kuriositäten aus allen Erdteilen. Gesammelt und mitgebracht von Seeleuten. Verschwunden ist das Ölzeug, die Südwester und Seestiefel vor dem Türeingang zu Glödes Ausrüstungsgeschäft für Seeleute, die Verlockung von einer erträumten Zukunft seebegeisterter Jungen.
Verschwunden sind die tiefliegenden Kellerkneipen mit ihrem ständigen Grogduft, den Schiffsmodellen, den von der Decke hängenden, mottenbenagten ausgestopften Vögeln der Südseeinseln, den Albatrosköpfen, Muscheln, Seesternen und vielerlei Gegenständen eines Kleinmuseums der Völkerkunde. Verschwunden ist der internationale Treffpunkt der Kapitäne, die angesehene Gaststätte und Hotel „Old Comercial Room“, an der Ecke von den Vorsetzen und Stubbenhuk.
Wie manche der Heuerbaase, waren Möller & Ohlsen altgewordene Kapitäne und Reedereibeauftragte für die Anwerbung der Mannschaft für Ihre Schiffe. Es gab Heuerbaasen, die zugleich Schlafbaase waren. Es war naheliegend, daß deren Logiergäste bevorzugte Chancen auf gutbeleumundete Schiffe hatten. Zumal, wenn ihre Zahlungsfähigkeit erschöpft war.Neben der einen Kategorie, die für Flüssigmachung der Heuer ihrer Schlafgäste im eigenen Lokal sorgte - gab es eine andere - die fürsorgend zur Anlage eines Sparkontos anriet. Das Vertrauen ihrer jungen Gäste zu ihnen ging oft so weit, daß sie den Schlafbaasen ihre Sparbücher zur Aufbewahrung hinterließen. Mancher Fahrensmann verdankte ihm hierdurch seine ersparten Geldmittel zum Besuch der Seefahrtsschule.
Möller & Ohlsen durchblätterte auch nicht auf der Suche nach Geldscheinen die Musterbücher, bevor sie eine Stellung vergaben. Von derartigen Methoden wurde an der Back vielfach geredet.Bei diesen alten Herren war ich also aufgekreuzt und für das Hamburger Vollschiff „Nordsee“ angenommen. Die „Nordsee“ gehörte der Firma F. L. Sloman & Co., die getrennt von der bekannten Hamburger Reederei Robert M. Sloman jr. einige Jahre einen Liniendienst mit Segelschiffen von Tönningen nach Australien betrieb.
In diesem nördlichen Hafen an der Westküste von Schleswig-Holstein lag also mein neues Schiff und die Reise nach dort hat vermutlich zu dem guten Verhältnis beigetragen, das unsere Crew während einer langen Bordzeit kameradschaftlich zusammenhielt. Bepackt mit unserem Zeugsäcken und Seekisten trafen wir auf dem Altonaer Bahnhof mit unseren Heuerbaasen zusammen. Sechs Matrosen waren wir, die dem Schiff noch fehlten. DasGepäck wurde aufgegeben, die Heuerbaase händigte uns die Fahrkarten aus und erklärte uns, ohne umzusteigen nach Tönningen durchzufahren. Dann wünschten sie uns eine gute Reise nachAustralien und atmeten vermutlich erleichtert auf, als der Zug mit uns aus dem Bahnhof rollte. Für diese berufserfahrenen Männer war es oft ein Kunststück, eine Mannschaft geschlossen zu verschicken. Widerspenstige Jantjes, noch verträumt vom freien Landleben, sprangen nicht selten aus der Herde.
Nun saßen wir Schicksalsgenossen in einem Abteil III. Klasse eines polterden Personenzugs und hingen unseren Abschiedsgedanken nach. Bis Pinneberg sprachen wir kaum miteinander. Dann war Hamburg überwunden. Nur eine halbe Stunde lag hinter uns. Krischan Reverey, ein waschechter Mottenburger, Sohn eines Gastwirts, hatte den väterlichen Segen in geistiger Form von mehreren Cognacflaschen mit auf die Reise bekommen. In Pinneberg knallte der erste Korken und zugleich der Trübsinn unserer Seelen. Mit einer Ausnahme, waren wir uns fremd. Nur ich traf mit einem Kameraden von meinem letzten Schiff, der „Pitlochry“ erneut zusammen. Auf dieser Laeisz’schen Viermastbark machten wir die Reise mit, als sie an Kap Hoorn entmastet wurde. Später gehörten wir zu den 13 Typhuskranken, die in unserem Nothafen Montevideo abgemustert und heimbefördert wurden. Das Beisammensein dauerte kaum 24 Stunden. Die Sehnsucht nach Hamburger Luft trieb ihn urplötzlich zurück.
Sinnig zuckelte unser Bummelzug von Station zu Station durch Schleswig-Holsteins grüne Auen. Husum lag hinter uns. Der Schaffner rief - Bredstedt - aus. So nebenbei fragten wir ihn, wann wir in Tönning ankommen würden. „Dann hätten Sie in Husum umsteigen müssen!“ rief er uns zu, während der Zug anfuhr. Mit Elan sprangen wir aus dem Abteil und landetet auf einem einsamen Bahnsteig auf der Reise nach Australien. Unsere Heuerbaase hörten die Verwünschungen nicht, die ihnen wegen der falschen Kursangabe zugedacht wurden.
Der nächste Gegenzug nach Husum war erst Stunden später fällig. Glück muß Janmaat haben. Wir hatten es. Die Bahnhofsgaststätte hatte einen bescheidenenTanzsaal. Die beschwingende Wirtstochter, die wir bei dem Reinschiffmachen des Saales überraschten, war allzu gern bereit, den Besen in die Ecke zu stellen und diese profane Arbeit in die beschwingtere von der Muse Terpsichere’s zu verwandeln und nach den lautstarken Klängen eines Orchestrion die Wartezeit mit uns zu durchtanzen.
In allerbester Stimmung verließen wir die erste Etappe unserer Weltreise. Als der Zug uns in Husum absetzte, waren wir ein festgefügte Gemeinschaft. Auch hier fehlte der Anschluß nach Tönning und erst am Abend war die Weiterfahrt möglich. So hatte wir die beste Gelegenheit, die gastronomischen Verhältnisse dieser gemütlichen Kleinstadt auszukundschaften. Dieser Forschungsaufgabe wurde gründlich nachgegangen. Von Kneip zu Kneipe ging unser Streben. Unserem spendablen Kreis hatten sich zwei Handswerkburschen mit Knotenstock und Felleisen, echte Monarchen der Landstraßen angeschlossen. Solch eine Gelegenheit zu billigen Alkoholquantitäten zu kommen, hatten sie sicher noch nicht erlebt. Als getreue Gefolgsleute begleiteten sie uns zum Bahnhof und nahmen tiefberührt Abschied von ihren Wohltätern.
Das Nachspiel zu unserer erfolgreichen Entdeckungsreise erfolgte prompt. Mein alter Kamerad von der „Pitlochry“ wurde seedoll. Seine Lademarke war überschritten. Entsetzt und entrüstet sprang ein Herr aus seiner Abteilecke auf, als er von dem Segen fast überschüttet wurde. Diesen verständlichen Zorn verbarg er, ohne ein Wort darüber zu verlieren. In Anbetracht der fidelen und stämmigen Burschen hielt er es wohl auch ratsam, sich nicht in eine offene Gegnerschaft zu ihnen zu setzen.
Am Spätabend landeten wir auf der „Nordsee“. Eine harte Arbeit war es für den Steuermann am nächsten Morgen, seine neuen Leute aus ihrem todesähnlichen Schlaf zu wecken. Unbarmherzig holte er sie aus den Kojen zur profanen Wirklichkeit des Daseins eines Janmaaten an Bord eines Windjammers zurück. Vorbei waren die Tage der ungebundenen Freiheit. Bei der Anmusterung am gleichen Tage auf dem Bürgermeisteramt verlangten wir von dem Kapitän die Erstattung unserer Rückfahrtkosten von Bredstedt nach Husum. Unseres Erachtens waren diese durch das Verschulden der Heuerbaase entstanden.
Diese Rechnung hatten wir aber ohne den Herrn Bürgermeister gemacht. Hielt der uns eine Moralpredigt über unser Verhalten in der Eisenbahn am Vorabend. Vor uns hatten wir den Unglücksraben, der von unserem Seekraken fast weggeschwemmt wurde. Diesen Übertäter konnte sein Zorn allerdings nicht erreichen. Der rollte bereits seit Stunden nach Hamburg zurück. Wir Kumpane aber mußten fast annehmen, anstatt nach Australien zu fahren, in Tönninger Kittchen unser Dasein zu beendigen. Da ich keine Veranlassung gegeben hatte, dieses drohende Schicksal auf mich zu nehmen, erklärte ich dem hohen Herren, daß ich mindestens ebenso nüchtern gewesen sei, wie er, der Bürgermeister. Diese Äußerung genügte, um kurzerhand die geforderte Unkostenerstattung abzulehnen. Getrauert haben wir über diesen Verlust nicht.
Wie üblich vor jeder Ausreise wurde das Schiff seeklar gemacht. Ein Teil der Mannschaft war bereits Wochenlang an Bord. Größere Segler waren seltene Gäste im Tönninger Hafen. So fanden die Leichtmatrosen und Schiffsjungen als hoffnungsvolle Kapitänsanwärter besondere Gnade bei den jungen bürgerlichen Evastöchtern des Landes. Mancher Brief folgte, oder vielmehr verfolgte die durch ewige Treue Verbundenen. Als diese dann seltener wurden und die verschiedenen Mädchennamen der Allgemeinheit preisgegeben wurden, erkannte man die Lösung eines hehren Gelöbnisses.
Unser Kapitän, das Urbild eines Segelschiffskapitäns, war ca. 35 Jahre alt. Seine Frau, welche die Reise mitmachen wollte, war 23 Jahre alt und dazu Erna, das Nestkücken, 9 Monate alt.Wir hatten also eine richtige Familie an Bord. Ein solches Idyll hatten wir Leute vor dem Mast alle noch nicht erlebt. Natürlich wurde im Logis geunkt: „Frauen an Bord bringen Unglück. Wenn das man gut geht?!“. Gefreut haben wir uns trotzdem, daß zwei weibliche Wesen an Bord waren.Bereuen brauchten wir es ebenfalls nicht. Es ging nämlich gut, sehr gut sogar.
Vom Mißgeschick blieb unser Schiff bis zu unserer Abmusterung verschont. Ich war dem I. Offizier Brüning zugeteilt, der die B.B. Wache befehligte. Die St.B. Wache führte der II. Offizier Paul Steindorff aus Elsfleth. Im Jahre 1942 traf ich den einstmals Schlanken als wohlbeleibten Kapitän eines Erzdampfers der Firma Krupp erstmalig wieder. Heute, nach mehr als 60 Jahren, stehen wir Altgewordenen in laufender, freundschaftlicher Verbindung. Der 23 jährige „Zweite“ genoß das uneingeschränkte Vertrauen des Kapitäns. Mit diesem hatte er bereits eine Reise auf SS „Charlotte“ gemacht. Weitere Vorgesetzte hatten wir nicht. An Ausländern waren zwei Schweden und ein Däne an Bord.
Das ein Familienschiff seine Tücken haben kann, mußte Tedje Prollius, ein fröhlicher Berliner, in seiner unverdorbenen Leichtgläubigkeit erfahren. An einem sonnigen Nachmittag kam der II te in unser Logis und gab dem guten Tedje den ehrenvollen Auftrag, Erna in ihrem Kinderwagen in den Tönninger Grünanlage spazieren zu fahren. Ein Jantje als Kindermädchen, diese teuflische Zumutung war dem gutmütigen Seemann doch zu viel. Besonders erbost war er aber über unser wenig kameradschaftliches Gelächter, das er über sich ergehen lassen mußte. Sein anfängliches Zögern war spontan verflogen. Er rebellierte. Trotz Androhung aller gesetzlichen Strafen wegen Meuterei, dieser Todsünde, blieb er hart bei seiner Ablehnung. Erst als der Urheber lachend abzog, erkannte er, daß er das Opfer eines abgekarteten Spaßes geworden war. Ein Kinderwagen war außerdem nicht an Bord.Später auf See, da hatte Erna das ganze Vorschiffvolk jederzeit als freiwillige Kindermädchen zur Verfügung. So ändern sich die Ansichten von harten Männern.